Dossier

Music For Social Change

Musik verändert unser Zusammenleben, unsere Städte und unsere Gesellschaft. Das Reeperbahn Festival gibt Menschen eine Bühne, die diesen Wandel vorantreiben – und diskutiert, was Künstler*innen und die Musikbranche dazu beitragen können. Mit Shain Shapiro und Amadeus Templeton, die Musik als entscheidenden Kitt für Gemeinschaften begreifen. Oder mit Linnéa Svensson, die ein paar Tipps für nachhaltige Live-Events mitgebracht hat.

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Essay

Die Gesellschaft als Orchester

Text: Ariana Zustra, Fotos: Roeler

Shain Shapiro überzeugt mit seiner Firma “Sound Diplomacy” Städte davon, dass Musik so überlebenswichtig ist wie Landwirtschaft oder Gesundheitsversorgung. Und Amadeus Templeton, Gründer des Förderprojekts TONALi, hilft Schüler*innen mithilfe von Klassik, sich selbst zu helfen. Beide sind sicher: In der Musik stecken Antworten auf die Fragen unserer Zeit. Wir haben sie auf dem Reeperbahn Festival getroffen.

Musik ist wie Wasser. Allgegenwärtig, leicht verfügbar – und wenn man Shain Shapiro glaubt: überlebenswichtig. Der Gründer der Beratungsfirma Sound Diplomacy vergleicht die Musikkultur eines Ortes gerne mit der Stromversorgung, mit Schulen oder mit Landwirtschaft. Elementare Infrastruktur für eine Gesellschaft, die Arbeitsplätze und Zusammenhalt sichert, Wohlbefinden und politische Stabilität. Seine Firma hat bisher in mehr als 60 Städten und Gemeinden weltweit Konzepte ausgearbeitet, um deren Musikkultur zu stärken. Auf dem Reeperbahn Festival erkundete er mit Vertreter*innen der Vereinten Nationen und der Musikwirtschaft, wie Musik die Nachhaltigkeitsziele der UN umsetzen kann. „Musikstrategie“ nennt er sein Tätigkeitsfeld allgemein.

Klingt kompliziert – und ist es auch: „Bei Musik geht es nicht bloß um die Musiker, die sie machen. Daran geknüpft ist eine Vielzahl an Tätigkeiten: Licht- und Tontechnik, Labels, Promo-Agenturen, Konzertveranstalter, Hotelbranche und Gastronomie, bis hin zu Busfahrern, die Menschen zu einem Auftritt bringen”, sagt Shapiro. Dazu kommen Proberäume und Konzerthallen, Treffpunkte für Musiker*innen, Zuhörer*innen und Menschen, die sich um dieses Ökosystem kümmern.

Ein Konzertsaal gegen die Mafia

Diese Infrastruktur ist selten sichtbar, ein bisschen wie die Wasserleitung in der Wand. Aber, so Shapiro, sie muss – ebenso wie sauberes Trinkwasser – geschützt werden, damit sich die Musikkultur eines Ortes entwickelt. Denn dem promovierten Philosophen aus Kanada geht es um mehr als um Arbeitsplätze. In der Musikkultur einer Stadt steckt noch eine Ressource, die Gesellschaften gerade in diesen Zeiten bitter benötigen: Sinn. Shapiro zitiert Statistiken, nach denen die Kriminalitätsraten in Stadtteilen genau ab dem Zeitpunkt gesunken sind, an dem ein Konzertsaal eröffnet hat. Es gibt da auch prominente Beispiele, wie das von Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo, der der Mafia-Kriminalität in seiner Stadt mit dem Bau von Kulturstätten begegnete.

Die Bedeutung dieser „sozialen Infrastruktur“ beschreibt auch Harvard-Professor Erik Klinenberg in seinem Buch “Palaces for the People“. Eine Gesellschaft wird laut dem Soziologen nicht nur über geteilte Werte zusammengehalten, sondern auch über geteilte Räume. Im Sinne Shapiros könnten etwa Proberäume oder Konzerthallen die Orte sein, an denen der soziale Kitt entsteht.

Aber welche Eigenschaften sind es, die gerade Musik für diese Rolle prädestinieren? Und hat sie wirklich das Potenzial, Probleme unserer Zeit zu lösen – wie etwa wachsenden Nationalismus oder soziale Ungleichheit?

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Shain Shapiro ist Kanadier, promovierter Philosoph – und Vorkämpfer für musikalische Infrastruktur.
Sakral, deluxe oder profan: Musik erschließt Räume in der Stadt. In diesem Fall die St.-Pauli-Kirche, das Heiligengeistfeld, den Michel, Schiffscontainer und das Kino im East Hotel.

Für Amadeus Templeton ist die Antwort klar: „Ja! Musik ist schließlich die einzige Universalsprache, die jeder auf dieser Welt versteht.“ Der Hamburger Cellist ist Gründer des gemeinnützigen Förderprogramms TONALi, das mit Hilfe junger Musiker*innen jährlich rund 40.000 Schüler*innen an klassische Musik heranführt – deutschlandweit, aber auch in China, Russland oder Griechenland.

Finde dein inneres Instrument

Dabei ist TONALi gerade an den Orten unterwegs, an denen sich Politik und Sozialwesen die Zähne ausbeißen: „bildungsfernen Schichten“, Fördereinrichtungen und angebliche „Problemschulen“ in Städten wie Berlin und Frankfurt oder in der Mecklenburgischen Provinz. „An Orten, die die Gesellschaft schon aufgegeben hat, sind wir besonders gern, weil wir da entgegen aller Klischees auf sehr viel Empfänglichkeit stoßen“, sagt Templeton. Da werden Kinder, die vor dem Bildungsprogramm nicht wussten, was eine Geige ist, binnen kurzer Zeit zu selbstbewussten Veranstalter*innen, die Konzerte oder ganze Festivals organisieren.

Templeton spricht in Anlehnung an Joseph Beuys‘ Motto der „Sozialen Skulptur“ von der „Sozialen Symphonie“ als tragende Kraft für die Gestaltung unserer Gesellschaft. „In einem Orchester spielen 100 Leute zusammen, und damit das funktionieren kann, muss jeder sein Instrument kennen und zum Klingen bringen. Auch unsere Gesellschaft kann man als Orchester begreifen: Wenn jeder sein inneres Instrument findet und spielt, kann er die Gesellschaft mitgestalten. Wir möchten Heranwachsende unterstützen, genau diese Initiativfähigkeit wachzurufen”, sagt er. In diesem Sinne – nochmal Beuys – sei jeder Mensch auch Musiker*in.

Während die Arbeit von TONALi dabei auf den Graswurzel-Ansatz setzt, agiert Shapiros Organisation Sound Diplomacy eher auf der Ebene von Verwaltung und Staat. „Wir versuchen, ein Verständnis für die Wertigkeit von Musik zu schaffen. Dazu sammeln wir alle Daten, die wir bekommen können, um den Wert von Musik zu bestimmen und zu erklären, durch Wirtschaftsentwicklung, Tourismus und die gesamte Gesellschaft hinweg.”

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Amadeus Templeton ist eigentlich Cellist – 2009 gründete ergemeinsam mit Boris Matchin das Kulturprojekt TONALi.

„Musik macht eine Stadt erst lebenswert“

Zum Beispiel für Huntsville in Alabama. Die Stadt mit ihren knapp 200.000 Einwohnern ist eher bekannt für das Entwicklungszentrum der NASA als für eine florierende Musikszene. Und wenn Alabama zuletzt in den Medien auftauchte, dann wegen des strengen Abtreibungsverbots. Doch gerade Orte wie diesen möchte Shapiro zu „Music Cities“ machen – wobei seiner Meinung nach jede Stadt eine Musikstadt ist, „sie weiß es nur noch nicht“.

„Musik macht eine Stadt erst lebenswert. In Musik zu investieren bedeutet nie, nur in Musik zu investieren. Sondern in Menschen. Musik ist Gesellschaft.“ In Huntsville heißt das: Ein Amphitheater und zwei Konzertsäle werden gebaut, eine neue Konferenz kreiert, ein Arbeitsplatz für einen städtischen Musikbeauftragten geschaffen. Am liebsten würde Shapiro jeder Stadt solch ein Erfolgserlebnis bescheren. Mehr noch: Er träumt von einer globalen Musikstrategie.

Dafür ist allerdings ein Perspektivwechsel nötig – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Musikwirtschaft. Neben den Rechnungen, wie viel ein Gig oder ein Stream wert ist, gilt es also auch zu fragen: Wie viel Wert hat Musik für die Gesellschaft? Glaubt man Vordenkern wie Shapiro und Templeton, dann rechnet Musik sich immer – nur nicht immer in Gewinn und Verlust. Sondern als elementare Größe sozialen Miteinanders.

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Interview

Wie wird ein Festival grün?

Interview: Anne Kleinfeld, Fotos: Roeler

Live-Events werden nachhaltiger – und Linnéa Svensson weiß wie: Vor zehn Jahren war sie maßgeblich daran beteiligt, Norwegens Oya-Festival zum umweltfreundlichen Vorzeigeprojekt umzubauen. Heute trägt sie ihr Wissen weiter, unter anderem für die NGO „A Greener Festival“. Ein Gespräch über gute Ideen und notwendige Kompromisse.

Organisatoren, Künstler*innen, Publikum: Wer hat aus deiner Sicht die größte Verantwortung für den ökologischen Fußabdruck von Live-Events?

Alle Beteiligten sollten sich über ihr Handeln Gedanken machen und etwas unternehmen. Die Organisatoren spielen als Vermittler natürlich eine große Rolle. Sie können einen Rahmen setzen für Künstler und Publikum. Festivals sind beispielsweise etwas flexibler als andere Events, weil sie sich ohnehin ständig neu erfinden. Sie können einfacher neue Produkte testen – und damit auch die Nachfrage für neue Lösungen anschieben.

Du hast schon 2009 auf einem Panel des Reeperbahn Festivals gesprochen. Was hat sich seitdem verändert?

Das Thema Nachhaltigkeit ist heute ein natürlicherer Teil der ganzen Art und Weise wie Festivals durchgeführt werden. Wir haben auch Nachhaltigkeits-Strategien in großen Unternehmen, das gab es damals noch nicht. Und ich sehe viele großartige Initiativen in Europa. Ganz praktisch betrachtet: Dass sich LED-Licht auf Bühnen durchgesetzt hat, ist eine massive Veränderung. Also ja, es hat sich in den zehn Jahren einiges getan.

Kannst du uns von den wichtigsten Erfahrungen berichten, die du mit dem Oya-Festival gemacht hast?
Also, das Wichtigste war, die Diesel-Generatoren abzuschaffen und durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Aber auch das Bio-Verpflegungs-Programm, das wir schon 2002 eingeführt haben. Wir konnten lokal und saisonal einkaufen und mit Köchen aus Oslo kooperieren. Am Ende war die Erfahrung für die Besucher noch besser als gewohnt. Heute ist das wirklich ein Teil der DNA dieses Festivals geworden – darauf bin ich ziemlich stolz, obwohl ich schon seit neun Jahren nicht mehr dort arbeite.

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Zur Nachhaltigkeit hat Linnéa Svensson unter anderem durch die eigene Kindheit gefunden: Sie wuchs auf einem Bauernhof auf.

Mit bis zu 130.000 Gästen ist das Roskilde eines der größten Festivals Europas. Stimmt es, dass sie Bier aus Urin der Besucher*innen gebraut haben?

Roskilde hat eine Menge erreicht – zum Beispiel haben sie den Urin der Gäste aufgefangen und daraus Dünger hergestellt. Der wurde dann auf einem Feld verteilt, auf dem Getreide fürs Bierbrauen wuchs. Es geht immer ums Storytelling, nicht wahr? In dem Fall darum, die Kreislaufwirtschaft zu vermitteln. Aber Roskilde setzt auch Vakuumtoiletten ein, was den Wasserverbrauch in hohem Maß senkt. Und 96 Prozent des Essens ist bio, das haben sie so etwa in den letzten fünf Jahren erreicht.

Welche Technologie könnte denn aus deiner Sicht die nächste wichtige Innovation für Live-Events sein?

Fliegen hinterlässt ja den größten Fußabdruck. Es wäre wunderschön, wenn wir besseren Kraftstoff für Flugzeuge hätten. Es gibt schon Elektro-Flugzeuge und ich weiß auch, dass große Firmen mit Bio-Sprit experimentieren. Aber wenn wir uns nicht dafür stark machen, wird es nicht passieren. In Helsingborg in Schweden hat eine Konzerthalle einfach aufgehört, Menschen einzufliegen. Und das heißt nicht, dass dort jetzt immer nur die gleichen Leute auftreten. Aber sie müssen eben mit dem Zug anreisen.

Also können auch Künstler*innen etwas beitragen.

Viele Künstler gehen ja schon sehr bewusst mit dem Thema um. Aber sie planen eben auch nicht alle Details ihrer Auftritte selbst – da geht es eher um andere Teile der Musikindustrie. Das Booking zum Beispiel hat einen riesigen Einfluss: Ich habe vor kurzem mit der Diamond League in Oslo gearbeitet. Die Athleten reisen ja von Event zu Event um die Welt – und die Organisatoren haben eben dafür gesorgt, dass die nächste Veranstaltung in Stockholm in der gleichen Woche stattfand. Eine Zugfahrt statt zwei Flugstrecken. Ich glaube, in solchen Planung stecken viele Möglichkeiten.

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„Nichts machen ist das Schlimmste“: Linnéa Svensson auf dem Reeperbahn Festival.

Hast du ein paar Tipps für Festivals, die sich mit Veränderung schwertun?

Ich glaube, dass Festivals ihren Besuchern mehr abverlangen können. Es ist ihr Event, sie können entscheiden. Wie ein Festival in Göteborg, das einfach entschieden hat, kein Fleisch mehr zu servieren. Niemand stirbt dran mal einen Tag kein Fleisch zu essen. Man kann sich entscheiden, zum Beispiel mit welchen Zulieferern und Händlern man arbeitet, was man für Essen anbietet. Abwaschbares Geschirr statt Plastik, Wegwerf-Ware vermeiden wo möglich. Vielleicht ein Belohnungssystem für all das einführen – manche Festivals machen das so. Und bessere Lösungen für die Mobilitätsfragen finden.

Was kann ich denn als Gast verändern?

Na ja, es gibt immer noch Leute, die ihr Zelt und ihre gesamte Camping-Ausrüstung auf dem Feld liegenlassen. Ich rate ja zu mehr Festivals im Umkreis von Städten, denn dort gibt es die Infrastruktur und die Anreisemöglichkeiten. Aber das ist natürlich auch eine andere Erfahrung. Es geht eben um diese feine Balance: Die Erfahrung verbessern, aber auch an den Fußabdruck denken, den wir zurücklassen.

Hast du noch einen Rat für diejenigen, die sich für Nachhaltigkeit engagieren wollen?

Niemand ist perfekt. Aber auch, wenn nicht alles klappt: Tu, was du kannst. Dieses Jahr hat sich mein zehnjähriger Sohn entschieden, dass er nicht in den Urlaub fliegen will. Er war da sehr streng, das war für ihn gar keine Frage. Ich glaube nicht, dass ich ihm das beigebracht habe, das kam eher von ihm selbst.

Was man sicherlich irgendwie auf Greta zurückführen kann, oder?

Ja, bestimmt. Ich glaube, Greta hat eine Menge Menschen ermächtigt. Sie ist so klar dabei und sie macht das alles zugänglich über ihre Social-Media-Updates. Das ist sehr beeindruckend. Sie hat es einfach gemacht, sich zu beteiligen, und jedem eine Rolle gegeben. Und ich glaube manchmal, wenn wir keine Rolle haben, macht uns das apathisch. Dann machen wir einfach nichts. Und das ist doch das Schlimmste, oder?

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