Dossier

Sounds of the Future

Es ist Zeit für audiophile Bewusstseinserweiterung: Wir besuchen die Menschen, die auf dem Reeperbahn Festival musikalische Grenzen verschieben. Es geht um die Kreation neuer Klänge, und den Einfluss von Technik auf unser Hören und Erleben. Mit Michaela Pňačeková, die einen Generator für Symphonien des Alltags entwickelt hat. Oder mit Ólafur Arnalds und Torsten Posselt, die mit High-Tech im Planetarium Langsamkeit schulen.

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Report

Mensch wird Musik

Text: Steffen Greiner, Fotos: Roeler

Ein VR-Projekt lässt Besucher*innen des Reeperbahn Festivals die Musikalität ihres Alltags erkunden. Autor Steffen Greiner hat sich hineingestürzt. Ein Erlebnisbericht aus der „Symphony of Noise“.

S-Bahn zur Reeperbahn: Der Typ neben mir ist nervös. Das macht mich wiederum nervös, wie er da so gegen die Scheibe klopft, mit dem Zeigefinger. Man hört es kaum, aber der Rhythmus ist schnell und drängend. Was ich versuche: Weggucken. Was ich nicht versuche: Tanzen. Was wäre die Welt für mich, in diesem Moment, würde ich die Augen schließen, würde ich das Fenster als Instrument begreifen, als Klangkörper, und den nervösen Typ neben mir als Komponisten, der dem Sound der Stadt seine Miniaturen beisteuert?

Unsere Körper als Instrumente

„A Symphony of Noise“, so vielversprechend heißt eine neue Virtual-Reality-Experience, die auf dem Hamburger Heiligengeistfeld ihre Premiere feiert. Eineinhalb Jahre nach dem ersten Prototyp ist das Projekt in einen Hochseecontainer gezogen, am Eingang zum Arts Playground des Reeperbahn Festivals. Dort haben die Macher*innen um Creative Director Michaela Pňačeková ihren Generator für virtuelle Welten aufgebaut, der sich von Alltagsgeräuschen und dem Input der Benutzer*innen nährt. Ausgangspunkt für den VR-Trip ist ein Buch des britischen House-Produzenten Matthew Herbert, das unscheinbar im Vorraum des durch einen schwarzen Vorhang geteilten Containers ausliegt: „The Music“ ist ein Roman durch Klänge. In der virtuellen Realität findet er nun eine künstlerische Erweiterung.

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Die neuen Welten wiegen schwer: Autor Steffen Greiner, verpackt in VR-Equipment.

Herbert, dessen erste Alben schon Mitte der 1990er erschienen, war immer mehr als bloß ein Tanzmusik-Fabrikant. Für das Album „One Pig“ etwa begleitete er mit dem Aufnahmegerät ein Schwein von der Geburt bis zum Tod im Schlachthaus. Musique Concrète könnte man das nennen, avantgardistische Musik aus vorhandenen, neu verhandelten Tönen, aber noch mehr als diese Gattung der 1960er geht es Herbert um Politik und Verantwortlichkeiten.

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Trailer für „A Symphony of Noise“: Die Umgebung wird zur Bühne für Stimme, Körper und einfache Rhythmen.

Wie klingt das System, abseits dessen, was gemeinhin ‚Musik‘ heißt – also mit allen High-Fives und jedem Husten und den Anschlägen von Fingern auf der Tastatur? In seinem Buch beschreibt er, szenisch gereiht und poetisch gefasst, das Knarzen der Kontinentalplatten und das Brummen von Kühlschränken – und dazwischen das Leben, unsere Körper als Instrumente.

Der Poesie voraus geht die Desinfektion

Die Szenarien der VR-Erfahrung orientieren sich an diesem Buch. Wo Herbert Sprache findet für Töne, findet das Projekt Töne und Visualisierungen für seine Welten. Produzentin Michaela Pňačeková erzählt, dass die „Experience“ eine Reise von innen nach außen beschreiben soll. „Am Anfang wollten wir sehr konkrete Welten schaffen. Aber wir haben gemerkt, dass die Klänge, die man schafft, schon so konkret sind, dass es notwendig war, alles zu ästhetisieren. Ich wollte es surreal und SciFi, ich wollte David Lynch.“ Um das Wunder des Klangs von Stimme, Körper und einfachen Rhythmen erfahrbar zu machen, sollen die Umgebungen ihnen eine Bühne bieten, sie nicht überbieten. Das sehr reale Geräusch meines Körpers in visueller, virtueller Poesie.

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„Eine Reise von innen nach außen“: Produzentin Michaela Pňačeková.

Der Poesie voraus geht die Desinfektion, hinten im Container, hinter dem Vorhang. Das Gerät, das ich gleich tragen werde, ist mehr als eine Brille, es ist ein ganzer Komplex, und wir Träger*innen schwitzen es gut an, an diesem Sommertag. Lilian ist meine Begleitung hinein in die Welten, die mich erwarten. Während sie Brille, Kopfhörer und Mikrofon für mich bereitmacht, erklärt sie, was vor mir liegt. Spricht von Singen, Atmen, von Objekten, die ich mit zwei Controllern aktivieren kann. Wir justieren gut herum, bis sich mein Kopf ganz isoliert eingepackt sieht, alle Sichtschlitze verschlossen sind und das Bild scharfgestellt. Dann drehe ich mich um und atme einmal durch. Die neuen Welten wiegen schwer.

Fakt ist: Ich singe. Und ich genieße es.

Um mich herum ist nun eine rote Wüste. Was ich tun soll, erklären Text und gesprochenes Wort: Mein Atem kann hier die Realität beeinflussen. Ich atme ein und langsam aus, durch den Mund, durch die Nase, ohne, dass sich etwas tut. Wie läuft das denn jetzt hier? Ich entdecke ein waberndes Objekt. Wenn ich das anpuste, wird es größer. Und je fester ich puste, desto stärker bläht sich die Masse über der roten Unendlichkeit auf. Das interessiert mich. Tief atme ich ein, mit vollem Einsatz blase ich ins Mikrophon, bis der Himmel ganz von einem durchsichtig glitzernden Seifenblasen-Schleim-Objekt gefüllt ist. Dann wird alles weiß.

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„Mein Atem kann hier die Realität beeinflussen.“

Als ich in die Landschaft aus zerklüfteten Eisbergen singen soll, die sich vor mir auftürmt, fällt mir natürlich nur etwas ein, was wie eine Mischung klingt aus halb erinnerten frühen Sigur Rós und dieser triumphal-barocken Fanfare, die ich einmal auf einem exzellenten Trip in einem Wald im Harz in mein Handy eingesungen habe. Glücklich machende Assoziationen, sicher, aber herrje: Warum singt man in so einer Island-Umgebung diese Island-Sounds und warum nicht Tamikrest oder Olympia? Fakt ist: Ich singe. Und ich genieße es sehr. Und die Welt antwortet, indem der Tunnel, der sich vor mir ins Eis gräbt, meinen Sound zurückwirft und sich weiter weitet, je lauter ich werde. Dass Lilian und unser Fotograf Tom nur einen guten Meter neben mir stehen, wird mir erst wieder einfallen, wenn sie mir etwa zehn Minuten später den Apparat abnimmt.

Als ich verschwitzt vor dem Container stehe, zurück auf dem Heiligengeistfeld, bin ich ein wenig neben der Spur. Nein, ich höre die Welt nicht mit anderen Ohren, aber das Glück, dass ich in diesen einsamen, poetischen Welten, die ich ganz ausfüllen konnte, mit meiner Stimme und meinem Körper, empfunden habe, schwingt noch nach. Nachts in der leeren Bahn zum Berliner Tor merke ich, wie schön die Fensterscheiben klingen, wenn man dagegenschnippst. Halt wie so ein Verrückter, oder wie ein Komponist.

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Interview

Die Entdeckung der Langsamkeit

Interview: Ariana Zustra, Fotos: Roeler

Perfektionismus und Hektik setzen Ólafur Arnalds und Torsten Posselt ein unterschätztes Konzept entgegen: Eine gezielte Dosis Langsamkeit. Der isländische Multiinstrumentalist und der Berliner Designer haben mit „Ekki Hugsa 360°“ eine übersinnliche Rundumerfahrung erschaffen – und das Planetarium als Spielstätte entdeckt.

In „Ekki Hugsa 360°“ fließen Sound und Visuals zusammen – das Ergebnis eurer Zusammenarbeit. Wie habt ihr euch eigentlich gefunden?

Ólafur Arnalds: Torsten und ich sind seit vielen Jahren befreundet, wir haben auch schon gemeinsam an Artworks und Musikvideos gearbeitet. Ursprünglich haben wir uns über unseren gemeinsamen Freund Nils Frahm kennengelernt.

Torsten Posselt: Nils wollte damals eine Vorstellung von Ólafur im Babylon in Berlin sehen und nahm mich mit.

„Ekki hugsa“ ist Isländisch für „nicht nachdenken“. Woher kommt der Titel?

Arnalds: Vor vier Jahren hatte ich eine schwierige Phase in meinem Leben, ich litt an Ängsten. Eines Abends nahmen mich Freunde mit ins Theater, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Es war eine interaktive Performance, bei der die Zuschauer durch verschiedene Räume gehen konnten. In einem saß ein Schauspieler, der Papier auf eine Wäscheleine hängte. Als er mich ansah, nahm er plötzlich einen der Zettel, kritzelte etwas darauf und gab ihn mir. Dann las ich die Botschaft: „Ekki hugsa“! Dieser Moment hat meine Arbeit der vergangenen Jahre inspiriert. Der Zettel hängt bis heute an meiner Wand.

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Doku-Video zu „Ekki Hugsa“: „Dieses Projekt ist ein Experiment“, sagt Komponist Ólafur Arnalds.

Welche Wirkung erwartet ihr, wenn sich jemand eure Arbeit im Planetarium anschaut?

Arnalds: Das Ziel ist eine immersive Erfahrung. Meine Hoffnung ist, dass Leute nicht gerade an die Arbeit denken, während sie da sind. Sondern exakt in dem Moment leben, in dem sie sind.

Posselt: Es ist großartig, wenn sich die Besucher auf diese 40 Minuten einlassen, ohne zu wissen, was passiert. Selbst wenn sie sich in den ersten fünf Minuten langweilen, weil sie etwas erwarten, was nicht eintritt.

Arnalds: Das ist der coole Teil! Es ist eine Herausforderung. Möglicherweise meldet das Gehirn zu Beginn: Langeweile. Du steckst fest. Aber man ist gezwungen, es zu akzeptieren – und fährt herunter. Und dann bist du noch viel beeindruckter von dem, was folgt. Es ist eine Reise zum Nicht-Denken.

… und damit ein Statement gegen die Hektik unserer Zeit?

Arnalds: Genau! Setz dich eine Stunde lang hin und langweile dich! (lacht)

Posselt: Langweile dich bis zur Glückseligkeit! (lacht)

Arnalds: Das ist eine eigene philosophische Diskussion. Langeweile ist so unterschätzt. Es ist wichtig, sich langweilen zu können. Daran wollen wir die Leute erinnern.

„Das Überangebot stellt ja eine Frage: Welche Wertigkeit hat Musik?“
Ólafur Arnalds
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Torsten Posselt und Ólafur Arnalds auf dem Reeperbahn Festival.

In der Installation wird dein Album „re:member“ von 2018 in neuer Form interpretiert. Woher kam die Idee, mit der Musik weiterzuarbeiten?

Arnalds: Für „re:member“ habe ich die Software „Stratus“ entwickelt, bei der ein Klavier bei jedem Tastenschlag zwei andere, selbstspielende Pianos ansteuert. Ich habe dafür so viel programmiert, dass mir die Idee kam: All diese Daten könnte man noch für mehr nutzen. Ich bin fasziniert davon, Musik auf neue Arten erlebbar zu machen. Heutzutage muss das Artwork für ein Album mehr sein als ein Coverfoto, das als kleines Quadrat bei Spotify eingeblendet wird. Musik ist so leicht verfügbar und wir Künstler müssen einen extra Aufwand betreiben, um sie wieder einzigartig zu machen. Weil das Überangebot stellt ja eine Frage: Welche Wertigkeit hat Musik? Und unsere Show bietet eine mögliche Antwort an: Schaut mal, was Musik noch sein kann. Ich persönlich finde, Musik sollte etwas Größeres sein als nur der Sound, der aus einer Streaming-Plattform kommt. Das kann Gemeinschaft sein, eine Bewegung, Objekte, Orte – wie zum Beispiel ein Planetarium.

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Gleich wird es wieder still: „Irgendwann waren wir im Flow – die Bilder für „Ekki Hugsa 360°“ sind beim Experimentieren entstanden“, sagt Torsten Posselt.

Posselt: Wir haben das Artwork für „re:member“ als Ausgangspunkt genommen. Stück für Stück haben wir dann Teile der Musik mit Ideen für Visuals verknüpft, die ich im Kopf hatte, in einer Art Ping-Pong-Prozess. Irgendwann waren wir im Flow – die Bilder für „Ekki Hugsa 360°“ sind beim Experimentieren entstanden.

Ein Programm spielt Klavier, und auch die Visuals in der Installation basieren auf einer analogen Drucktechnik, der Cyanotypie. Welche Rolle spielt für euch dieser Wechsel zwischen analogen und digitalen Produktionstechniken?

Posselt: Unsere Arbeiten verbinden die Liebe zu beiden Welten. Es ist immer eine Kombination. Aber offen gestanden: Ich liebe es, mit Dingen zu arbeiten, die ich anfassen kann.

Arnalds: Oh ja. Ich bevorzuge auch einen echten Knopf gegenüber einem Mausklick. Bei meiner Musik geht es sehr um Körperlichkeit. Selbst wenn ich am Laptop einen Beat erstellen könnte, der am Ende so klingt wie von einem Schlagzeug, möchte ich lieber den kreativen Prozess analog durchlaufen. Uns war es wichtig, unsere Produktionen aus der digitalen Welt herausholen und zu Objekten zu machen – selbst wenn wir sie für die Show wieder digitalisiert haben.

Posselt: Wir kehren immer wieder zum Analogen zurück. Indem wir beispielsweise ein Visual einscannen, war es zumindest mal auf echtem Papier und ist nicht nur ein Bild auf einem Projektor. Selbst wenn man es nicht bewusst wahrnimmt, kann man das sehen. Das, was zum Beispiel wie ein Sternenhimmel aussieht, ist durch die Struktur und Staubkörner des Papiers entstanden.

… was ja letztlich ein Zufall ist. Ist das auch ein Teil eurer Arbeit: Verzicht auf Kontrolle?

Arnalds: Kunst passiert, während man sie macht. Kunst zu machen ist bereits Kunst, zumindest für mich. Ich genieße die Entstehung mehr als das Endprodukt. Stratus hat mir ermöglicht, aus den Automatismen in meinem Kopf auszubrechen und mich auf unvorhergesehene Wendungen einzulassen. Man vergisst dabei, dass man etwas „Perfektes“ erschaffen wollte, und denkt eher: Oh, das klang gerade cool, wie kann ich das wiederholen? Du erreichst einen Flow zwischen dir und deinem Instrument.

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Der Welturaufführung von „Ekki Hugsa“ auf dem Reeperbahn Festival folgt eine Tour durch verschiedene Planetarien.

Posselt: Zufall und Perfektion sind letztlich nur Konzepte, die wir Menschen uns mal als Gegensatzpaare ausgedacht haben. Sie implizieren, es gäbe immer einen Kampf zwischen diesen Konzepten. Offenbar gibt es den auch, aber nicht, weil diese beiden Welten nicht zusammenpassen, sondern weil wir das Gefühl haben, sie müssten getrennt voneinander sein. Ich bin davon überzeugt, dass es an uns liegt, das zu entscheiden.

Arnalds: Kunst zu machen ist wie ein Duell zwischen dir und deinem Perfektionismus. Es geht darum, Löcher zu finden und hineinzupieksen. Weil dort liegen die wirklich interessanten Dinge.

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